Ich erinnere mich an Zeiten, da war es fast unmöglich, mit meiner Schwester spazieren zu gehen, weil sie (als Apothekerin) jedes Kraut und Gras beim lateinischen Vor- und Zunamen benennen wollte. Man kam einfach nicht voran. In der Schule lernte ich John Bergers Buch »Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt« kennen und schätzen. Zu sehen ist eben weitaus mehr als ein optischer Vorgang. Auge, Hirn, Vorerfahrungen, all das wirkt zusammen.
»Gaby mag nur eines unter zwanzig anderen Mädchen sein, und doch sehen wir […] nur sie an« (schreibt John Berger im genannten Buche). Mir wird zunehmend deutlich, dass hinzusehen, genau zu sehen, erforderlich ist, um Bilder verstehen und lesen zu lernen. Und noch viel mehr, um beim eigenen Erschaffen von Bildern eben nicht Kochrezepten und Regeln zu folgen, die andere uns vorgehen.
Bei der Photographie und der Musik, zwei Kulturbereichen, die auch eine technische Seite haben, ist eine höchst vernichtende (wenngleich oft gut gemeinte) Würdigung: »Du hast ja auch eine gute Kamera (bzw. eine gute Gitarre)«. Ja, möglicherweise ist die gut, aber die »Güte« ist mir kein absolutes Kriterium (das etwa mit dem Kaufpreis zusammen hinge). Vielmehr geht es darum, dass das Werkzeug zum Zweck und zu mir passen muss. Welcher Ölmaler muss sich anhören: »Du hast aber auch gute Pigmentfarben und beachtlichen Malgrund; die waren sicher teuer…«
Wer viele Bilder aufnimmt, muss hinterher äußerst gründlich aussortieren. Und hoffen, dass etwas übrig bleibt, das ihr oder ihm Freude macht, das vielleicht gar vorzeigbar ist, ohne das es peinlich erscheint.
Der Wert eines Bildes liegt sicher im Auge der Betrachtenden. – Das ist aber etwas Grundverschiedenes vom Kunstmarkt und dessen »Wertbeimessungen«. – Nebenbei: Das erschwert mir die Preisfindung ganz erheblich. Gelegentlich möchten Menschen eines meiner Bilder »kaufen«. Wenn ich die Zeit berücksichtige, die erforderlich war, das Bild zu erschaffen, wird es zu teuer. Selbst dann, wenn ich einmal den langjährigen Lernprozess außer acht lasse, und nur das Anfertigen der Aufnahme selbst und einer Baryt-Vergrößerung inklusive archivfester Verarbeitung annehme, dazu die Kosten für Film, Photopapier und Chemikalien, wird das Bild zu teuer (wem kann ich 3 h Aufnahmezeit und ebenso lange im Labor berechnen?) Ich kann es bloß verschenken, oder ich verkaufe mich unter Wert bzw. unter meinem Einstandspreis.
Im Getöse der Nachrichten sind Pflanzendetails merkwürdig schweigsam…
Die Muße, das Hinschauen zu lernen und immer wieder einzuüben, das ist eine Art Lebensstil. Diese Muße, die freie Zeit bei freiem und offenem Geist aber, ist schwierig zu finden, wenn die Klimawandel-Kipppunkte nahen und die Corona-Krise über uns hinwegschwappt. Da fällt mir das Flanieren in einem botanischen Garten nicht leicht, so gut es tut und so notwendig es ist, wenn ich photographisch aktiv bleiben möchte.
Kurz gesagt: Zu photographieren setzt eine Offenheit gegenüber Details in meiner Umwelt voraus, die ich zu ordnen mich bemühen kann. Nur so ergeben sich (hoffentlich) feine Bilder. Einige sprechen diese Bilder an, andere nicht. Die Motivation für meine Bilder aber liegt in meinem Sehen. – Oft geht es mir so, dass ein Bild, mit dem ich eine gewisse Zeit lang umgehe, das etwa an einer Wand hängt, so dass ich es regelmäßig sehe, nach einiger Zeit für mich Bedeutung gewinnt. Nicht als Zeitzeugnis. Aber als etwas, das mir gefällt, das mich anspricht. Einige solche Bilder habe ich ausgewählt und stelle sie meinen Blogbeiträgen derzeit voran.